Der versunkene Wald

EIN VERBORGENES MEER


"Wart Ihr jemals abseits der Brücke? Habt ihr jemals gewagt, den Steg zu verlassen und habt den Ort gesehen, wo der Urwald seinen größten Sieg errungen hat?
Ich, mein Freund, habe diesen Ort gesehen. Ich war da, wo Mehdora und Vanor Hochzeit hielten unter Vesanas Zepter, ich habe ein Meer gesehen, das Ihr auf keiner Karte verzeichnet finden werdet, ich sah Kreaturen in der Tiefe leuchten, so schön und so grausam, daß mir mein Herz bei ihrem Anblick gleichzeitig vor Angst zu Eis erstarren und vor Glück zu brennen anfangen. Ich spürte die Kälte der Nacht am hellichten Tage, ich sah Äste von den Bäumen auf mich herabsteigen, ich... ich habe zuviel gesehen an jenem Ort.
Nein, mein Freund, bleibt dem versunkenen Wald fern. Wünscht Euch, daß Ihr das Meer, das einst meine Augen sahen, nie selbst sehen müßt."



DAS DACH


"Kommt, hört damit auf", herrschte Eluk seine beiden Fahrgäste an. "Wir brauchen den Ballast noch." Immer noch starrten Vlak und Vlaka weit über den Rand des Schiffes gebeugt in die Tiefe. Der Stein war schon lange nicht mehr zu sehen, schon längst hatte er das Blätterdach durchschlagen und war damit für immer verschwunden. "Diesmal waren es mehr Vögel", bewertete Vlaka den letzten Fallversuch zufrieden. Stolz richtete sich Vlak auf. "Ich glaube, ich habe sogar einen erwischt."
"Wer weiß, was Du noch alles erwischt hast", preßte Eluk zwischen den Zähnen hervor, mit deren Hilfe er ein Seil für einen Knoten vorbereitete. Vlak winkte ab. "Was soll dort unten schon herumkriechen. Da kann doch keiner lange überleben." "Woher willst Du das denn wissen?" fragte Vlaka. "Ach ja, Du bist ja sooo klug." Sie blickte wieder in die Tiefe.
Unter ihr bot sich ein einförmiges Bild. Baumwipfel reihte sich an Baumwipfel. Es gab keine Stelle, an der man hindurch hätte blicken können. Das einförmige Grün wurde nur durch kleine weiße Farbtupfen, die sich bei genauerer Betrachtung oder bei einem gezielten Steinwurf als Brutkolonien von hunderten von Vanatis herausstellten unterbrochen. Es gab kein Indiz dafür, was sich unter dem Teppich verbarg.
Vlaka runzelte die Stirn. "Glaubst Du wirklich, daß da etwas lebt, Eluk?" Ein kräftiger Ruck, der Knoten saß. "Weißt Du, Vlaka, Mehdoras Macht ist größer als alles andere in dieser Welt. Sie hat es geschafft, das Wasser, die Felsen, die Erde und die Luft mit Leben zu erfüllen, warum sollte sie vor jenem Wald dort halt machen?"



DIE HOCHZEIT DER GÖTTER


"Als die Götter wieder Ratschluß halten wollten, kamen sie in der Halle der Götter zusammen. Eine jede Gottheit stellte sich hinter Hostinos oder Mra-Aggar, so wie es ihnen bestimmt war.
Da fiel Vanors unergründlicher Blick auf Mehdora. Mehdora schien ihm so schön, so prall von Leben und Fruchtbarkeit, daß er während des Rates nicht von ihr lassen konnte, obwohl sie Tochter von Mra-Aggar war.
Mehdora bemerkte den Blick Vanors. Zunächst blickte sie voller Scheu zu Boden, als sich ihre Blicke streiften, doch alsbald spürte auch sie das Feuer des Verlangens in ihr.
Als der Rat vorbei war, wagte Vanor es endlich, zu Mehdora hinüber zu gehen. Als Hostinos jedoch sah, wohin Vanor seine Schritte lenkte, schleuderte er ihn zurück: 'Niemals wirst Du, Vanor zu ihr gehen, da sie ein Kind Mra-Aggars ist. Niemals, Vanor sollst Du ihr Nahe sein und sie berühren.' Vanor mußte sich dem Willen seines Vaters beugen.
Wieder und wieder sahen sich die beiden gegenüber stehend im Rate, doch nie konnten sie zusammen kommen.
Mehdora in ihrer Verzweiflung faßte schließlich einen Plan. Sie begann einen Teppich zu weben, so dicht und so fest, daß kein Auge, sei es chrestonischer oder himmlischer Art, ihn zu durchdringen vermöge. Nicht einmal Hostinos oder Mra-Aggar.

Als der Rat wieder tagte und beendet war, schlich Mehdora hinüber zu Vanor, warf ihren Umhang über ihn und stellte sich davor. So sah es aus, als würde der Wind ihren Umhang aufblähen.
Hostinos aber bemerkte das Fehlen von Vanor. Gemäßigten Schrittes durchmaß er die Halle der Götter und kam auch Mehdora immer näher.
"Mehdora, sprich. Was hat sie für einen Mantel dort?"
Vesana, die Göttin der Nacht hatte den Trick Mehdoras bemerkt und hatte Mitleid mit den Liebenden. So schickte sie einen kalten Nachthauch zu ihr hinüber.
"Aber Herr, es ist kalt, spürt ihr es nicht? Ich habe ein dickes Gewand und der Wind bläht es auf."
Hostinos trat näher an sie heran.
"Mehdora, sprich. Wieso sieht ihr Gewand so unförmig aus?"
Da ließ Vesana die Dunkelheit der nacht über die Halle der Götter fallen.
"Aber Herr, es ist dunkel. Mein Gewand ist normal gefaltet, wie es immer ist."
Endlich gab sich Hostinos zufrieden und verließ mit seinem Gefolge die Halle.
Mehdora aber flüsterte Vesana zu: "Ich danke Dir, Vesana. Du wirst immer einen Platz unter meinem Gewand finden, wenn Du vor dem Lichte Hostinos' fliehst."
Dann verließ sie mit Vanor unter ihrem Gewande die Halle.
Gemeinsam gingen sie in ein einsames, geschütztes Tal. Dort ließen sie sich nieder, küßten sich, berührten sich und liebten sich, und Vesana hielt Wache und ließ die Nacht länger dauern als es ihr zugestanden hätte.

Als Hostinos das bemerkte, stieß er voller Wut hervor: "Vesana, Du sollst nicht länger in meiner Halle schlafen dürfen. Ich werde Dich nicht verstoßen, aber Du wirst in meiner Halle keinen Platz mehr finden, wo Du Dich vor meinem Licht verstecken kannst."
Als Mehdora und Vanor das Toben von Hostinos hörte, hielten sie inne. Vanor gab Mehdora noch einen letzten Kuß und wollte gehen. Mehdora jedoch sprach: "Geh nicht, ich bitte Dich, laß mir etwas von Dir zurück, etwas, daß ich halten kann, daß ich umschließen kann."
So schnitt sich Vanor eine Wunde in die Brust und ließ sein Blut in das Tal fließen, daß sich darauf voll mit Wasser füllte. Dann verließ Vanor Mehdora und eilte zurück in die Halle der Götter.
Vesana fürchtete sich vor dem Zorn von Hostinos. "Bitte Mehdora! Ich half Dir, nun hilf Du mir!"
Da nahm Mehdora ihr Gewand und warf es über Vesana, als Hostinos am Himmel erschien. Unter dem dichten Gewand konnte Hostinos sie nicht sehen.
Jeden Morgen nun kriecht Vesana unter das Gewand Mehdoras und verbringt dort den Tag.
Noch immer liegt das Gewand über diesem Tal, darunter verborgen fließt das Blut Vanors in der Dunkelheit der Nacht, die hier ewig ist.
Tief im Inneren des Tales, dort, wo das Blut Vanors am tiefsten ist, soll immer noch der wundersame Platz zu finden sein, wo sich Vanor und Mehdora einst liebten."



DER WALD


"Gut, ich werde Dir von meiner Reise erzählen.
Zunächst spürst Du noch festen Boden unter Deinen Füßen. Der ganz normale Wahnsinn, wenn Du da draußen durch den Dschungel gehst - Schlingpflanzen, Farne, der ewige Lärm der Vanatis und Affen, Schlangen, Spinnen, Ameisen, aber das brauch ich Dir ja nicht zu erzählen, warst ja wahrscheinlich schon selbst mal auf der Brücke und hast Dir das ganze von oben angesehen...
Jedenfalls - so nach einigen Stunden Wanderung wird doch dieser Wald immer höher - ich meine, man kennt ja die Tanyuk-Bäume, aber die dort sind mindestens nochmal zehn bis zwanzig Schritt höher. Und so dicht. Als wir weiter liefen, konntest Du meinen, es sei schon Abend. Als dann mittags der Regen kam, da lief nur ein wenig Wasser an den Rinden der Bäume herab, aber glaubst Du, wir sind naß geworden? Nicht die Spur!
Dafür sammelt sich das ganze eben auf dem Boden. Aber unsere Führerin - so eine kleine, dicke, nicht sehr hübsch, aber sehr geschickt - meinte, die Pfützen stünden hier immer und es würde noch feuchter werden.
Wir laufen also so in dem Dämmerlicht immer weiter gen Norden und der Boden wurde immer schwammiger. Hätte beinahe meine Stiefel eingebüßt, ich mußte sie mir mit Lederriemen am Bein festbinden, sonst wären sie im Schlamm zurückgeblieben. Wundert mich nicht, daß es da kaum noch Tiere gibt. Ich habe einen Affen gesehen, der sich bemüht hat, durch den Schlamm zu kommen. Hätt's beinahe nicht geschafft, der Kleine, so tief steckte er schon in der Suppe. Glücklicherweise gab es hier und da mal einen umgestürzten Baum, auf dem wir laufen konnten. Kamen aber viel zu selten vor, wenn du mich fragst.
Wir kamen auch immer langsamer voran. Gegen Abend stand uns das Wasser dann bis zur Mitte der Waden. Und kalt war mir! Du glaubst gar nicht, wie kalt es da unten ist! Du weißt ja, daß ich die Hitze normalerweise nicht mag, aber einmal wieder richtig zu schwitzen - ach, das war mein Wunsch damals! Naja, ist ja auch nicht so wichtig.
Aber mir wurde schon ganz anders, als die Nacht heranbrach. Ich kenne ja das dauernde "Keluuuuntà" der blöden Brüllaffen, ich mein, das hört man ja manchmal nachts sogar in Estichà, aber die Viecher müssen irgendwo über uns gesessen haben. Ich hab ja nix mehr gesehen und das hat da auch so gehallt. Ja, es war so, als wäre man in einer großen Halle. Über uns die Kuppel des Waldes und rund herum die Säulen der Bäume. Ja, ich glaube, das ist ein ganz guter Vergleich. Aber glaub mir, es war schon verdammt ungemütlich da. Wir hatten uns auf eine kleine Insel im Wasser gelegt, rund um so einen Riesenbaum.
Am nächsten Morgen (naja, wir sind auf gut Glück aufgestanden, als wir dachten, es sei morgen, ich mein, die Morgensonne zu sehen hat man ja keine Chance). Jetzt hab' ich den Faden verloren...
Achja, am nächsten Morgen jedenfalls hab ich dann mal schauen wollen, wie hoch unser Baum war, an dessen Fuß wir geschlafen hatten, aber meinst Du, ich hab in der Dunkelheit irgendwas da oben gesehen? Gelegentlich sah man mal ein bißchen was durchschimmern, aber nicht viel. Ich hab mir mal so ein Blatt angesehen, daß wohl von so einem Baum weiß ich wieviele Meter hinuntergesegelt ist. Es war eigentlich ganz normal. Vielleicht ein bißchen dicker und dunkler, aber sonst ganz normal. Hätt' ja sein können, daß es irgendwas besonderes da oben gibt.
Ich hatte eh schon das Gefühl, daß da oben so unter den Kronen der Bäume irgendwas war. Waren vermutlich nur Affen. Achja, und Flugechsen. Ist schon unheimlich, wenn Du auf so einem Baumstamm läufst, unter Dir das Wasser - sicherlich schon hüfthoch - und plötzlich segelt so ein Ungetüm mit mindestens drei Schritt Spannweite über Dich hinweg. Die Führerin meinte aber, die seien harmlos, solange man nicht versuche, die Bäume zu erklettern, dann denken die nämlich, man wolle an ihre Vorratskammern oder Nester.
So ab Mittag wurde es dann erst richtig unheimlich. Bei Mehdora, solche Bäume hab ich noch nie in meinem Leben gesehen! Ein Durchmesser von mindestens, ja, wieviel werden's gewesen sein?, mindestens sieben oder acht Mannslängen, mein Lieber!
Gut daß wie eine Führerin dabei hatten. Die hat uns recht schnell gezeigt, wo man auf umgefallenen Baumstämmen laufen kann. Wir mußten nur ein paar mal schwimmen. Ich sage, Dir, daß mach ich nicht nochmal mit. Du siehst wirklich nichts! Es ist einfach dunkel unter Dir. Gelegentlich stößt Du mit Deinen Beinen an irgendwelche Wurzeln, hätten aber auch gut Schlangen sein können oder noch schlimmeres. So schnell geschwommen bin ich glaube ich noch nie. Die Frau hat uns gesagt, wir sollen bloß nicht von dem Wasser trinken, da schwimme so einiges an Zeugs drin. Und tatsächlich habe ich mal ganz nah am Stamm ein totes Tier gesehen - weiß Mehdora was das war -, das war ganz von Maden bedeckt. Gelegentlich wurde es auch kurz in die Tiefe gezupft und tauchte dann wieder auf. Ich vermute, irgendwelche Fische haben sich Maden runtergepickt oder haben sich an dem Tier zu schaffen gemacht.
Ich muß allerdings sagen, daß es sich auf den Baumstämmen sehr gut laufen läßt. Aber Riesendinger sind das! Die sind so breit, daß Du bequem drauf laufen kannst, ohne irgendwie das Gleichgewicht halten zu müssen. Ist besser als manche Brücke, die ich schon gesehen habe. Ich habe mal meine Schritte gezählt, die ich auf einem einzigen Stamm gemacht habe. 288! Das Ding war über 200 Schritt hoch!
Dann am Abend - mein Magen hat mir verraten, daß es Abend war - kamen wir schließlich bei dem Dorf an. Also, ich habe mich ja schon an vieles gewöhnen müssen, aber das!
Die hatten einen der Bäume gefällt, der mindestens einen Durchmesser von 60 Schritt hatte. Den Baumstumpf - er ragte sicherlich fünf Meter aus dem Wasser heraus - hatten sie ganz eben gemacht und die Oberfläche abgeschmirgelt oder so. Jedenfalls haben die dann auf dem Baumstumpf ihre Hütten hingestellt! Auf dem Baum standen sicherlich ein halbes Dutzend Hütten.
Die Menschen, die hier lebten waren alle recht still und hatten einen düsteren Gesichtsausdruck - so düster wie der Wald selbst. Wenigstens hatte ich zum Essen endlich wieder was Warmes - muß irgendein Fisch gewesen sein, sonst haben die dort unten ja nichts, was sie essen könnten.
Im Laufe des Abends sind sie dann langsam aufgetaut. Haben angefangen, ganz merkwürdige Geschichten vom Inneren des Waldes zu erzählen. So soll tief drinnen das Wasser immer tiefer werden. Die Dunkelheit ist dort so dicht, daß sie fast greifbar wird und unter einem brodelt das Wasser manchmal vor fremdem Leben. Sie haben erzählt, daß dort geheimnisvolle, leuchtende Wesen im Wasser leben, Drachen, so groß wie ein ganzes Haus, die ein göttliches Licht verstrahlen und so fruchtbar und gleichzeitig wunderschön seien, daß man fast den Verstand verliere. Ich weiß ja nicht, was bei diesen Baumstumpfmenschen Phantasie und was Wirklichkeit ist, aber mir wurde ganz anders, als die davon erzählt haben.
Mitten in diesem - ja, schon als Meer zu bezeichnenden - Riesensee soll sich eines der größten Wunder Chrestonims verbergen: ein Heiligtum Mehdoras. Eine Insel, voll der fremdartigsten Kreaturen, die man sich vorstellen kann, die einen riesigen Palast aus schillernden Türmen und Kuppeln bewachen, ganz und gar überwuchert und umschlungen von Kletterpflanzen und giftigen Orchideen. Glaub mir, daß ich ganz froh war, als wir noch am selben Abend beschlossen, lieber eine andere Richtung einzuschlagen..."