Senke

"Kommt, hört damit auf", herrschte Eluk seine beiden Fahrgäste an. "Wir brauchen den Ballast noch." Immer noch starrten Vlak und Vlaka weit über den Rand des Schiffes gebeugt in die Tiefe. Der Stein war schon lange nicht mehr zu sehen, schon längst hatte er das Blätterdach durchschlagen und war damit für immer verschwunden.
"Diesmal waren es mehr Vögel", bewertete Vlaka den letzten Fallversuch zufrieden. Stolz richtete sich Vlak auf. "Ich glaube, ich habe sogar einen erwischt."
"Wer weiß, was Du noch alles erwischt hast", preßte Eluk zwischen den Zähnen hervor, mit deren Hilfe er ein Seil für einen Knoten vorbereitete. Vlak winkte ab. "Was soll dort unten schon herumkriechen. Da kann doch keiner lange überleben." "Woher willst Du das denn wissen?" fragte Vlaka. "Ach ja, Du bist ja sooo klug." Sie blickte wieder in die Tiefe.
Unter ihr bot sich das übliche Bild. Baumwipfel reihte sich an Baumwipfel. Es gab keine Stelle, an der man hätte hindurchblicken können. Das einförmige Grün wurde nur durch kleine weiße Farbtupfen unterbrochen, die sich bei genauerer Betrachtung oder bei einem gezielten Steinwurf als Brutkolonien von Hunderten von Vanatis herausstellten. Es gab kein Indiz dafür, was sich unter dem Teppich verbarg.
Vlaka runzelte die Stirn. "Glaubst Du wirklich, daß da etwas lebt, Eluk?" Ein kräftiger Ruck, der Knoten saß. "Weißt Du, Vlaka, Mehdoras Macht ist größer als alles andere in dieser Welt. Sie hat es geschafft, das Wasser, die Felsen, die Erde und die Luft mit Leben zu erfüllen, warum sollte sie vor jenem Wald dort halt machen?"

Noch immer ist der große, dampfende Talkessel der Senke, der ganz und gar von dichtestem, brodelndem Dschungel überwuchert ist weder erforscht noch jemals durchwandert worden. Zu räuberisch sind die Kreaturen, zu mörderisch und kräftezehrend die drückend schwüle Luft.

Viel ist nicht darüber bekannt, was sich unter dem dichten Dach der Baumriesen verbirgt, doch wird einstimmig berichtet, daß der Untergrund sehr zerklüftet und der Boden von tiefen Rissen durchzogen sein soll. Oft sieht man spitze Felsnadeln oder einzelne schroffe Berge aus dem Dschungel ragen. Es gibt zahlreiche Berichte über die verschiedensten Bewohner der Senke: neben den ungezählten mörderischen Bestien, die zwischen den Bäumen hindurchstreifen auf der Suche nach Beute soll es auch einige wilde Stämme von Chirà, Sragon und Menschen geben, die in den Tiefen der Senke hausen und man erzählt sich sogar von ganzen Städten und Kulturen, die bisher unentdeckt schon seit Jahrhunderten wenn nicht Jahrtausenden existieren.

Mra Adoshan, der Große Strom, bildet die natürliche Südgrenze der Senke und man kann nur von Glück sprechen, dass die schrecklichen Kreaturen dieser grünen Hölle ihn nicht überwinden können, erreicht er doch hinter Ashrabad bis zu den ersten Felsen der Gebirge Yedeas seine größte Breite. Die große, am südufer verlaufende Küstenstraße von Gilgat nach Ashrabad darf sich deshalb als wenigstens leidlich geschützt vor den Scheußlichkeiten des Dschungels wissen und auch Ashrabad selbst hat aufgrund seiner Lage auf Inseln im Großen Strom nicht gar so viel zu befürchten. Doch sobald die Straße das Nordufer des Stroms bei Sikamra betritt, sieht sich der Reisende mit der tödlichen Unerbitterlichkeit der Senke konfrontiert: das Reisen ist bis Rash-Magapur nur mit schwerst bewaffneten Karawanen möglich, die schwere Speerschleudern auf den Rücken von Roputans und mindestens zwei Dutzend gut ausgebildete Söldner mit sich führen müssen, wollen sie sicher am Rande der Senke reisen.

Der grüne Wall von Rashama schützt Rash-Magapur vor dem unerklärlichen Zorn der Senke und die Berge von Chiàn stellen ihrerseits ein Hindernis dar. Aber allein die Berichte aus der Allianz-Provinz Oranya, wo die Kreaturen der Senke sogar das machtvolle Volk der Chirà mit seiner Technik und seinen Kriegerinnen das Fürchten lehrt, lassen erahnen, warum das Herz Mradoshans auch nach Jahrtausenden der versuchten Erforschung noch immer ein weißer Fleck auf der Landkarte jeder Zivilisation ist.